Finnland: Unabhängigkeit im Schatten der Sowjetunion

Finnland: Unabhängigkeit im Schatten der Sowjetunion
Finnland: Unabhängigkeit im Schatten der Sowjetunion
 
Von der Autonomie zur Unabhängigkeit
 
Der Weg Finnlands zur Eigenstaatlichkeit war schon im 19. Jahrhundert vorgezeichnet. Mit dem Ausbau administrativer Eigenständigkeiten hatte sich das Großfürstentum Finnland, das Schweden 1809 an Russland abtreten musste, zu einem Staat im Staate entwickelt. Als 1899 ein Manifest des Zaren die Gesetzgebungskompetenz des Landtages einschränkte, antwortete die aufgebrachte finnische Öffentlichkeit mit einem Generalstreik. Die Revolutionswirren in Russland boten einen willkommenen Anlass, am 6. Dezember 1917 durch eine einseitige Unabhängigkeitserklärung die Verbindung zum Zarenreich endgültig aufzukündigen.
 
In zähen Verhandlungsrunden erreichte man wohl am 31. Dezember 1917 die Zustimmung Lenins zum Ausscheiden aus dem russischen Staatsverband, die Einlösung der Zusage musste den Bolschewiki allerdings erst gewaltsam abgerungen werden. In Helsinki hatten am 27. Januar 1918 die Roten Garden die Macht übernommen und ganz Südfinnland in ihre Gewalt gebracht. Unter dem Landtagspräsidenten Kullervo Manner konstituierte sich ein Finnisches Volkskommissariat. Die bürgerliche Regierung unter Per Evind Svinhufvud war nach Vaasa ausgewichen und beauftragte den ehemaligen Generalleutnant der zaristischen Armee Carl Gustav Freiherr von Mannerheim, die noch im Lande verbliebenen russischen Garnisonstruppen zu entwaffnen und die Gegenoffensive einzuleiten.
 
Die »weißen« Schutzkorps eroberten am 6. April 1918 die »rote« Bastion Tampere und kämpften gemeinsam mit der deutschen Ostseedivision, die unter General Rüdiger von der Goltz bei Hanko gelandet war, am 13. April 1918 die Hauptstadt Helsinki frei. Nach dem roten Terror übte ein noch blutigerer weißer Terror grausame Vergeltung.
 
 »Großfinnische« Träume
 
Nach der Verhinderung der bolschewistischen Revolution suchte Finnland zunächst Anlehnung an das kaiserliche Deutschland. Auf Betreiben des zum Reichsverweser bestellten Svinhufvud wählte der Reichstag am 9. Oktober 1918 den hessischen Prinzen Friedrich Karl zum König. Wegen der Revolution in Deutschland konnte er allerdings den Thron nicht mehr besteigen. Finnland gab sich 1919 eine republikanische Verfassung, die den Präsidenten mit außerordentlichen Vollmachten ausstattete.
 
Die Regierung hatte es nicht leicht, die Anerkennung der Westmächte zu gewinnen. Noch schwieriger war es, sich mit den bolschewistischen Machthabern in Petrograd zu verständigen. Die Versuche, während des russischen Bürgerkrieges mit Freiwilligenverbänden ein großfinnisches Territorialprogramm in Ostkarelien umzusetzen, scheiterten. Im Frieden von Dorpat verständigten sich beide Seiten am 14. Oktober 1920 auf einen Grenzverlauf, der den Finnen nur im Norden mit Petsamo eine Gebietserweiterung brachte.
 
Der Bürgerkrieg hatte tiefe Wunden hinterlassen. Die finnische Sozialdemokratie bekannte sich unter Väinö Tanner vorbehaltlos zum parlamentarisch-demokratischen System. Sie wurde stärkste Parlamentsfraktion, beteiligte sich aber zunächst nicht an der Regierungsverantwortung. Die bürgerliche Mehrheit wurde getragen von der konservativen Nationalen Sammlungspartei, der Schwedischen Volkspartei und der liberalen Nationalen Fortschrittspartei. Eine zentrale politische Bedeutung gewann der Bauernbund. Die 1918 in Moskau gegründete Kommunistische Partei Finnlands geriet ins gesellschaftliche Abseits. Ihre Führung operierte im Untergrund und schürte über Tarnorganisationen und Streiks der Gewerkschaften Unruhe. Gegen die kommunistischen Umtriebe formierte sich vom ostbottnischen Lapua (schwedisch Lappo) aus der Widerstand. Man veranstaltete eine regelrechte Kommunistenhatz und übte Selbstjustiz. 1930 wurde Kommunisten jegliche öffentliche Tätigkeit verboten. Der Versuch rechtsextremistischer Gruppen, im Windschatten der 1929 gegründeten Lappo-Bewegung am 27. Februar 1932 in Mäntsälä die Machtübernahme zu proben, scheiterte an der energischen Gegenwehr der Regierung.
 
 Außenpolitische Optionen
 
In der Außenpolitik war das Vertrauen zum östlichen Nachbarn nachhaltig erschüttert. Der Streit über die Ålandinseln sorgte ebenso wie der schwelende Sprachenstreit für eine anhaltende Missstimmung im Verhältnis zu Schweden. Außenminister Rudolf Holsti bemühte sich um ein Verteidigungsbündnis mit Estland, Lettland, Litauen und Polen. Diese »Baltische Liga« scheiterte 1922 an der zwischen Litauen und Polen ungelösten Wilnafrage. Weder der Völkerbund noch die seit 1935 versuchte skandinavische Orientierung boten einen festen Rettungsanker. Finnland drohte zwischen den Machtblöcken zerrieben zu werden. Das Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 ordnete Finnland der sowjetischen Einflusssphäre zu. Um nicht wie die baltischen Staaten in den Sog einer sowjetischen Vorfeldsicherungspolitik zu geraten, versagte sich die finnische Regierung im Herbst 1939 allen Bemühungen der Sowjetunion um gemeinsame Verteidigungsabsprachen. Am 30. November 1939 trat die Sowjetarmee zum Angriff an.
 
 Winterkrieg und »Fortsetzungskrieg«
 
Feldmarschall von Mannerheim organisierte als Oberbefehlshaber den Widerstand. Zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit vermochten es die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Finnen, den Vormarsch der hochgerüsteten Roten Armee vorübergehend zum Stehen zu bringen. Erst am 11. Februar 1940 gelang auf der Karelischen Landenge der kriegsentscheidende Durchbruch. Finnland musste im Frieden von Moskau am 12. März auf die südöstlichen Gebiete und die Inseln im östlichen Finnischen Meerbusen verzichten sowie auf dreißig Jahre die Halbinsel Hanko als Flottenstützpunkt abtreten.
 
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion hoffte von Mannerheim als unfreiwilliger Partner Hitlers vergeblich, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. 1944 scherte Finnland aus dem ungleichen Waffenbündnis aus und riskierte im folgenden »Lapplandkrieg« den militärischen Konflikt mit den aus Finnland abziehenden deutschen Truppen. Dem diplomatischen Geschick Juho Kusti Paasikivis als Ministerpräsident und seit 1946 als Nachfolger von Mannerheims im Amt des Staatspräsidenten verdankten die Finnen erträgliche Friedensbedingungen im Vertrag von Paris 1947. Der Preis für den Fortbestand der Selbstständigkeit waren ein Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion im Jahre 1948, hohe Reparationsverpflichtungen und die Bereitschaft, sowjetische Interessen zu beachten. Diese diplomatische Linie Paasikivis — später als Paasikivi-Kekkonen-Linie bezeichnet — hat das Land vor sowjetischen Besatzungstruppen bewahrt und die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung gesichert. Dieser unbestreitbaren historischen Leistung der finnischen Diplomatie wird das Schlagwort von der »Finnlandisierung« in keiner Weise gerecht.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch, München
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Neutralität: Die neutralen Staaten Europas
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Finnland: Weg zur Souveränität
 
 
Finland. People, nation, state, herausgegeben von Max Engman und David Kirby. Aus dem Schwedischen. London u. a. 1989.
 Jutikkala, Eino: Geschichte Finnlands. Aus dem Finnischen. Stuttgart 21976.
 Kirby, David G.: Finland in the twentieth century. London 21984.
 Polvinen, Tuomo: Between East and West. Finland in international politics, 1944-1947. Aus dem Finnischen. Minneapolis, Minn., 1986.
 Puntila, Lauri A.: Politische Geschichte Finnlands, 1809-1977. Aus dem Finnischen. Helsinki 1980.
 Ueberschär, Gerd R.: Hitler und Finnland 1939-1941. Die deutsch-finnischen Beziehungen während des Hitler-Stalin-Paktes. Wiesbaden 1978.
 Zetterberg, Seppo: Finnland ab 1917. Aus dem Finnischen. Keuruu 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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